Die Geschichte ließe sich so erzählen:

Es ist das Jahr 1968. Die Stadt Olean im Westen des US-Bundesstaats New York hat den Zenit ihres Wachstums bereits seit einigen Jahren überschritten. Erst verlor sie an Wirtschaftskraft, dann an Einwohnerïnnen und schließlich an Bedeutung.

Dabei war Olean eine boomende Öl-Stadt – die Öl-Stadt. Im frühen 17. Jahrhundert war in der Region das erste Öl Nordamerikas gefunden worden. Knapp zwei Jahrhunderte später erwarb der ehemalige Offizier und Landvermesser Adam Hoops große Teile des Landes und ersetzte den indigenen Namen der Region – Ischua – durch eine Abwandlung des Lateinischen oleum (für Öl).1

Wie, um ihren Namen zu rechtfertigen, förderte die Region bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein weltweit am meisten des schwarzen Rohstoffs. Doch mit der Entdeckung neuer Quellen anderorts verlor die Region sukzessive an Relevanz.2 Der Boom in Olean war vorbei – er zog weiter nach Oklahoma und Texas, nach China und Venezuela, nach Russland, Saudi-Arabien und in den Iran.

Es ist also das Jahr 1968. Mitten in diesem Jahrzehnt, das später als »die goldene Zeit des Öls«3 bezeichnet werden soll, steht Olean nur noch für die Vorgeschichte; für den historischen Beginn eines weltweiten Phänomens des Zugreifens und des Sammelns.

Zeitgleich entschließen sich die Verwaltung und lokale Polizeibehörde dazu, ein Pilotprojekt zu starten. Erneut als nationale Vorreiterin wird Olean die erste Stadt, die eine Videoüberwachung im öffentlichen Raum installiert. Entlang der Hauptgeschäftsstraße ragen Überwachungskameras von Laternenmasten und das noch junge Kabelnetz der aufblühenden Fernsehindustrie überträgt die Bilder auf die behördlichen Monitore. Das Projekt weckt das Interesse internationaler Polizeibehörden von Thailand bis Israel.4 Dann, nach 18 Monaten wird es eingestellt, da die kaum vorhandene Kriminalität die hohen Kosten nicht rechtfertigt.5

Heute, ein halbes Jahrhundert später, sind Millionen Kameras auf die Bevölkerung der USA gerichtet; auf alle 4,6 Einwohnerïnnen im Land kommt eine installierte Kamera.6 Wieder also ist Olean Pionierstadt, historischer Beginn eines Phänomens des Zugreifens und Sammelns (erst Öl, dann visuelle Information), und wieder wandert der Boom aus – an den Time Square, nach London und wieder auch nach China. Man könnte meinen, die Zeitung The Economist richte sich 2017 in historisierendem Sarkasmus direkt an die Stadt Olean, wenn sie in einer Überschrift festhält: »The world’s most valuable resource is no longer oil, but data«.7

Weiter zu Teil 2: Wache(nde) Augen

1 City of Olean: Brief History of Olean, URL.

2 City of Olean: More on the History of Olean, URL.

3 Jürgen Paeger: Eine kleine Geschichte des Erdöls, URL.

4 Jonathon Keats: In Praise of Ugly and Conspicuous Security Cameras, in: WIRED (10.22.2019), URL.

5 Linda Greenhouse: TV used to fight mt. Vernon crime, in: The New York Times (11.04.1971), URL.

6 Irina Ivanova: Video surveillance in U.S. described as on par with China, in: CBS News (10.12.2019), URL.

7 O.A.: The world’s most valuable resource is no longer oil, but data, in: The Economist (06.05.2017), URL.