Dies ist Teil 2 der Text-Reihe The unsleeping eyes of Olean. Zu Teil 1 geht es hier.
Als die Stadt Olean das erste US-amerikanische Pilotprojekt zu Videoüberwachung im öffentlichen Raum begann, war dies eine Initiative der noch jungen TV-Industrie in Zusammenarbeit mit den lokalen Behörden. In einem Werbespot hieß es, beide Seiten hätten »große Sorge« aufgrund hoher Kriminalitätsraten.1 Ob sich diese Sorgen auf die Unversehrtheit der Bewohnerïnnen oder die betriebswirtschaftlichen Ziele in Zusammenhang mit einem beschleunigten Kabelnetzausbau richteten, wurde in dem Spot nicht weiter ausgeführt. Ungeachtet dessen ist die Antwort der Kampagne klar – und sie ist eine technische: »Olean is protected by the unsleeping eyes of televisual systems« (Ebd.).
Diese Formulierung wird im Singsang des restlichen Marketingjargons schnell überhört und doch lassen sich viele zentrale Fragen der damaligen wie heutigen Überwachungsdebatten von diesem einen Satz ableiten.
Beginnen wir mit den immer wachen Augen (unsleeping eyes), als die die Kameras bezeichnet werden. Sie sind es, die das Schutzversprechen übernehmen, sind immer wach und immer wachend zugleich – unsleeping und protecting.
Doch Augen – um die anatomische Analogie vorerst beizubehalten – sind kein Schutz vor dem Verbrechen selbst. Sie sind lediglich das Versprechen, es erblicken zu können, auf Verbrecherïnnen gerichtet zu sein, um im entsprechenden Falle die eigentlichen Schutzmechanismen (Intervention durch Polizistïnnen) initiieren zu können.
Etwas vor den Augen der Polizei zu tun ist gewagt und so werden die technischen Augen nicht nur zum Werkzeug reaktiver, sondern auch präventiver Strategien erklärt. Denn wache Augen suggerieren auch einen (wachen) Körper, der bereit ist, einzugreifen. Sie suggerieren Wachsamkeit.
Nun wachen also die kastenförmigen Augen – der Analogie weiterhin folgend – über die Bewohnerïnnen von Olean. Das können sie jedoch nur, indem sie wach auf alle blicken, also auf jene, die Verbrechen begehen und jene, die sie zu beschützen vorgeben. Be-wachen erfordert Über-wachen, so die politische Logik der Videoüberwachung. Um alle Straftaten zu sehen, müssen die immer wachen Augen alle Taten (im Sinne aller Handlungen) sehen.
Ein derartiger Eingriff in die Privatsphäre lässt sich besonders in der deutschen Sprache mit der semantischen Ungenauigkeit des Begrifffs Sicherheit rechtfertigen. Ein Überwachungssystem trage, so heißt es dann, zur Sicherheit bei. Dabei wird Sicherheit im Sinne des Englischen security, nicht also des Englischen safety verwendet. Anders formuliert: Es ist eine Sicherheit im Interesse der Sicherheitsbehörden – gesicherte Kontrolle –. Es ist jedoch keine Sicherheit im Interesse der Überwachten als Freiheit von fremden Übergriffen, denn ein solcher Übergriff ist die Überwachung als solche bereits.
Das chinesische Überwachungsprogramm, das (derselben anatomischen Analogie folgend) Sharp Eyes heißt, hat daher keinen Hehl daraus gemacht, einhundertprozentige Abdeckung der Überwachung im öffentlichen Raum als Ziel auszugeben.2 Ein Gestus biblischen Ausmaßes und alttestamentarischer Ethik: »Denn seine Augen sehen auf eines jeden Weg, und er schaut auf alle ihre Schritte. Es gibt keine Finsternis und kein Dunkel, wo sich verbergen könnten die Übeltäter.«3
Das Versprechen in Olean lautete: Videoüberwachungssysteme sind immer wache und wachende Augen, die den rechtschaffenen Menschen bewachen (safety) und jene, die Böses im Schilde führen, überwachen (security). Dass beides durch dasselbe technische System, ohne strukturelle oder logische Unterschiede in dessen Prozessen geschieht, ist Ausdruck des problematischen – um nicht zu sagen: perfiden – politischen und ökonomischen Leitmotivs.